Zwischen zwei Meeren
Von Flug- und Fluchtversuchen – oder: Möwe am Bett
Kürzlich kam ich tiefenentspannt vom Strand nach Hause. Meer, büschn Wind, Wellen und Möwen, wie das hier so läuft. Als ich die Küche betrat, sprang mein Blutdruck von Ebbe auf Sturmflut: Direkt vor meiner Balkontür stand eine Möwe und guckte interessiert durch die Scheibe.
Eine junge Silbermöwe. Die erkennt man daran, dass sie noch nicht silberweiß, sondern graubraungescheckt ist. Je jünger, desto graubrauner. In der Pubertät, mit zwei, drei Jahren, sind nur noch Kopf und Flügel leicht gescheckt. Meine Möwe hier war noch komplett gescheckt. Ich zwang mich zur Ruhe, griff nach dem Handy und machte ein paar Fotos.
Möwentaufe
In meinem ersten Sommer am Meer kackte eine ausgewachsene Möwe so zielgenau im Flug, dass ich der sich im Fünfundvierziggradwinkel rasant nähernden Möwenkacke nur durch eine beherzte Rolle seitwärts entging – und ihr grauweißer Flatschen nur meine Tasche traf. Schon das hatte ich als eine Art Taufe interpretiert. Ich war angekommen. Aus dem nordrhein-westfälischen Binnenland ausgewandert, ans Meer eingewandert und von einer Möwe scheißfreundlich begrüßt.
Aber die Balkonnummer war nochmal cooler. Wer hat schon eine Möwe auf dem Balkon? Ha! Vögel sind schließlich Fluchttiere. Vorsichtig näherte ich mich der Tür. Die Möwe blieb stehen. Ich öffnete die Tür. Sie blieb stehen.
Vögel sind Fluchttiere. Mhm. Vielleicht hatte sie Hunger. Oder Durst. Ich stellte ihr Wasser hin und warf etwas hilflos vorsichtig ein Stückchen Toast auf den Balkon. (Auf keinen Fall nachmachen! Möwen klauen zwar gern Fischbrötchen, allerdings wegen des Fischs, nicht wegen des Weißmehls, das für sie ähnlich ungesund ist wie für Enten und Menschen.)
Hat sie beides nicht interessiert. Sie stand und guckte. Ich kam näher. Sie stand und guckte.
Hocharbeiten
Irgendwann dämmerte mir, dass es hier um etwas anderes ging. Vor zwei Jahren gab’s in unserem Innenhof ziemlichen Radau, weil ein paar Möwen fliegen übten und dabei schrien als würden sie bei lebendigem Leib gegrillt. Menschenkinder müssen laufen lernen, Möwen fliegen. Sie arbeiteten sich damals wochenweise Etage für Etage nach oben, bis sie es im fünften Stock endlich konnten. Ich wohne in der ersten Etage. Anfängerniveau.
Meine Möwe stand und stand und guckte. Ich hatte nun zwei Möglichkeiten: Sie domestizieren oder ihr vom Balkon runterhelfen. Da ich keine Zeit für Haustiere habe, holte ich Lederhandschuhe und betrat im Zeitlupentempo den Balkon, um sie nicht in Panik zu versetzen.
Die Möwe blieb cool, ich war die mit dem Blutdruck.
Vor lauter Aufregung kam ich nicht auf die Idee, die Balkontür hinter mir zu schließen. Ich stand in einer Ecke des Balkons, die Möwe vor der offenen Tür. Sie lief ein bisschen hin und her, rutschte auf dem glatten Estrich mehrfach aus und übte Gleichgewicht. Das war wahnsinnig drollig und hätte ein virales Insta-Video werden können. Das Handy lag auf dem Küchentisch.
Hausbesuch
Ich wollte aus meiner Balkonecke raus, zum Handy, der Möwe und mir selbst helfen.
Und was tat sie? Genau. Sie hüpfte in die Küche und guckte sich erstmal um.
Sofort fiel mir die Fasanendame ein, die sich vor Jahren in meinen Dortmunder Wintergarten verirrt hatte. Bevor sie sich raushelfen ließ, flog sie mehrere Runden, zerlegte Pflanzen und Töpfe und kackte vor lauter Hektik alles voll.
Ich tapste so unsichtbar wie möglich hinter der Möwe her. Wenn sie in meiner schmalen Küche ihre Flugversuche fortsetzen würde, könnte das die zweite Renovierung innerhalb von zwei Monaten nach sich ziehen.
Aber sie guckte nur interessiert und watschelte immer geradeaus Richtung Wohnbereich.
Inzwischen bin ich so alt, dass mich nicht mehr viele Situationen aus der Fassung bringen. Aber wie verhalte ich mich richtig, wenn eine Möwe mein Bett umkreist?!
Fensterbank abräumen, Fenster öffnen, Fluchtmöglichkeit schaffen.
Null Interesse. Sie blieb erstaunlich cool, watschelte einmal überall durch, guckte und watschelte weiter. Ich heftete mich unauffällig an ihre Fersen, erwog und verwarf alle möglichen Optionen. Nach Nachbarn rufen, Rettungsweg freimachen, Feuerwehr rufen, ihr etwas überstülpen und dann raustragen – mit Spinnen klappt das ja auch -, sie mit irgendwas locken, auf sie einreden, abwarten und Tee trinken.
Etage für Etage
Als sie bei ihrem Rundgang erneut im Flur vorbeikam, drangen aus dem Innenhof vertraute Geräusche durch die Balkontür. Möwengeschrei als wollten sie selbst die Feuerwehr rufen. Offenbar hatte ihre Familie endlich gemerkt, dass eine fehlt und sich auf die Suche gemacht. Meine Jungmöwe setzte ihren Weg Richtung Familiengeschrei fort, durch die Küche, an die Tür und hopste über die Schwelle auf den Balkon.
Ich blieb hinter ihr, schloss die Tür, stülpte mir die Lederhandschuhe über und versuchte sie zu fassen. Sie hatte offenbar recht schnell gecheckt, dass Fliehen in dieser Situation Fliegen voraussetzen würde. Im dritten Anlauf fügte sie sich in ihr Schicksal. Vom Balkongeländer aus flatterte sie in den Sandkasten. Immerhin.
Inzwischen ist sie eine Etage weiter und ich fühle mich seitdem wie Ritterin Möwenherz.
